Aristide Maillol in Zürich: Die Obsession mit der Frau (2024)

Eine Ausstellung im Kunsthaus Zürich feiert den grossen französischen Bildhauer. Gleichzeitig nimmt ihn die britische Kunsthistorikerin Catherine McCormack ins Visier und gibt ihn zum Abschuss frei. Das macht diese Schau besonders sehenswert.

Philipp Meier

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Aristide Maillol in Zürich: Die Obsession mit der Frau (1)

Einst gab es den weiblichen Akt. Er war allgegenwärtig in der Kunst. Heute hat sich das geändert. Es gibt diese Kunst zwar noch immer in unseren Museen. Da räkeln sich in goldenen Bilderrahmen nackte Nymphen, auf marmornen Sockeln posieren entblösste Liebesgöttinnen. Aber heute geht es nicht mehr um den weiblichen Akt, wenn man diese Werke betrachtet. Heute spricht man vom männlichen Blick.

In ein altes Weltbild, das Idealbilder von Frauen schuf, hat sich ein neues Bewusstsein geschoben. Man betrachtet heute einen Frauenakt und stellt plötzlich fest, dass er einst vor allem für die Bedürfnisse eines männlichen Publiku*ms geschaffen wurde. Dieser Blickwandel lässt sich derzeit an einem der klassischsten Bildhauer der Moderne nachvollziehen. Die Ausstellung zu Aristide Maillol (1861–1944) im Kunsthaus Zürich zeigt einen Künstler, der sein Schaffen wie kein anderer seiner Zeit der traditionellen Kunst des Akts verschrieben hatte.

Der Blick einer Frau auf Maillol

Der weibliche Körper war Maillols Lebensthema. Noch in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts inszenierte er den Frauenakt in meisterhafter Monumentalität. Künstler wie Jacques Lipchitz oder Henri Laurens begannen damals die klassische Aktfigur kubistisch aufzubrechen. Maillol hingegen hielt an der Formensprache des 19.Jahrhunderts fest.

Die Moderne stellte den Blick auf die Frau auf den Prüfstand. Im Zuge der Frauenemanzipation entdeckte die Kunst den Blick von Frauen auf Frauen – und die feministische Kunstkritik denjenigen von Frauen auf den männlichen Blick. Zu diesen Frauen gehört auch die britische Kunsthistorikerin Catherine McCormack – Verfasserin des kürzlich erschienenen Buchs «Women in the Picture». Nun hat sie in der Begleitpublikation «Maillol – Ein anderer Blick» zur Ausstellung den französischen Bildhauer ins Visier genommen.

Aristide Maillol: «Méditerranée», 1905 (Modell), Giessereigips (links); «Léda», 1901–1902, weisse Terrakotta.

Ist Maillol noch der grosse Bildhauer der weiblichen Figur, als den ihn jetzt die aus Paris übernommene Überblicksschau im Kunsthaus vorstellt? Oder ist er einfach nur ein Mann, der mit Vorliebe nackte Frauen darstellte? In McCormacks Augen sah Maillol die ganze Welt «in den robusten Frauenkörpern, die er schuf». Seine Frauen machte er zu üppigen Symbolen für Vorstellungen und Empfindungen wie Sommer, Jugend, Nacht oder Fruchtbarkeit. Den weiblichen Körper setzte er mit der Natur gleich – sinnlich, emotional und im Gegensatz stehend zur rationalen Kultur des Mannes. Darin widerspiegelte Maillol die Vorstellungen seiner Zeit.

Ebenbilder grosser Männer der Kultur hatte Maillol nie geschaffen. Dies im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Auguste Rodin, der auch männliche Figuren darstellte. Selbst für die Gestaltung der Denkmäler für Cézanne oder Debussy fiel Maillol nichts Besseres ein, als diese mit weiblichen Einzelakten «mit kecken Apfelbrüsten» (McCormack) zu zieren. Beauftragt mit einer Skulptur zum Gedenken an den politischen Aktivisten Louis-Auguste Blanqui, soll er dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau gesagt haben: «Ich mache Ihnen einen schönen grossen Frauenarsch und nenne ihn ‹Die Freiheit in Ketten›.» Auch mit diesen markigen Worten war er ein Mann des 19.Jahrhunderts. Catherine McCormack lässt ihn damit aber nicht davonkommen.

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Sie erkennt in Maillols Idealisierungen der Frau Frauenfeindlichkeit. So erinnere Maillols Kunst daran, dass es zu dessen Zeit für Frauen kaum Möglichkeiten gab, an Kunstakademien zu studieren. Ihnen war insbesondere das Studium des nackten Körpers – damals zentral für die künstlerische Ausbildung – verwehrt. Das sei nichts für zarte weibliche Gemüter.

McCormack argumentiert mit Sigmund Freuds männlicher Kastrationsangst – der Befürchtung also, dass einem nackten männlichen Modell von Kunststudentinnen etwas hätte weggeguckt werden können. Damit benennt sie die Macht des Blicks. Zu schauen und zu urteilen, war damals ein männliches Privileg, der Betrachtung und Beurteilung stillschweigend ausgesetzt waren die Frauen.

Die Heerscharen stummer Aktmodelle stammten meist aus der Unterschicht. Für das stundenlange Modellstehen in ungenügend geheizten Ateliers wurden sie mehr schlecht als recht entlöhnt. Auch Aristide Maillols Bronzeplastik «Venus mit Halskette» (1928) in der Sammlung des Kunsthauses steht symbolisch für diesen sozialen Missstand. Als Modell diente dem Künstler eine spanische Magd, die in seinem Haushalt tätig war.

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Diesen Modellen hat die britische Dichterin Carol Ann Duffy in ihrem Gedicht «Standing Female Nude» von 1984 eine Stimme verliehen. Darin schildert sie die Verwandlung eines lebendigen Körpers in eine analytische Darstellung, damit schliesslich das Bürgertum das Bild einer «gewöhnlichen Nutte» («a river-whor*») bestaunen könne. Da heisst es: «Sechs Stunden für ein paar Francs, Bauch, Nippel, Arsch im Schaufenster». Dieser Anklage schliesst sich McCormack in ihrem Essay an.

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Aristide Maillol: «La Nuit», 1909, Giessereigips (links); «Île-de-France», auch «La Baigneuse», zwischen 1925 und 1933, Stein.

Ein Fall für die Zensur?

Die Verwandlung von Frauen in Anschauungsobjekte der Kunst hatte Maillol offen gestanden, als er spottete: «Wenn ich ein Mädchen vorbeigehen sehe, ziehe ich sie mit meinen Augen aus und sehe Marmor unter ihrem Rock.» So sah der männliche Blick damals aus. Wenn wir heute Maillols sinnliche, formvollendete Skulpturen betrachten, tritt auch diese chauvinistische Fratze zutage.

Nach Catherine McCormacks Ansicht gehören Maillols Akte einer Vergangenheit an, «die mit ihren Sitten, Glaubenssätzen und Symbolen uns Menschen des 21.Jahrhunderts perplex macht und befremdlich vor den Kopf stösst». Zensur lehnt McCormack dennoch ab, da diese «aus den Kunstwerken und ihren Erschaffern, die unsere heutige Gendersensibilität provozieren, nur Märtyrer macht».

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Catherine McCormack vergleicht in ihrem Aufsatz Maillols «Venus mit Halskette» mit einigen Frauenakten aus der Sammlung des Kunsthauses, die von Künstlerinnen stammen. Da wird augenscheinlich: Frauen kommen ohne Erotisierung des weiblichen Körpers aus. Das ist nicht verwunderlich. Der männliche Blick auf die Frau ist auch heute anders geartet als der weibliche. Wie aber Maillol über seine Modelle sprach, lässt den Schluss zu, dass er sich sein eigenes Begehren nicht eingestand. Er spielte es mit seiner sexistischen Haltung herunter und machte es verächtlich.

Dem begehrenden Blick des Künstlers räumt Carol Ann Duffy in ihrem Gedicht, das voller erotischer Anspielungen ist, den ihm gebührenden Stellenwert ein. Manchmal verliere er die Konzentration, heisst es an einer Stelle. Dann «versteift er sich für die Wärme» des Modells. Die Doppeldeutigkeit der Zeile bringt sowohl seine emotionale Kälte gegenüber dem Modell als auch seine sexuelle Reaktion auf dieses zum Ausdruck. Für Duffy ist der Künstler nicht nur Genie, sondern auch Opfer seiner Begierde, über die sein Modell die Macht hat.

«Aristide Maillol – Die Suche nach Harmonie», Kunsthaus Zürich, bis 22.Januar 2023. Katalog in Französisch: Fr. 68.–; Begleitpublikation «Maillol – Ein anderer Blick» mit einem Beitrag von Catherine McCormack: Fr. 21.–.

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